27.01.2018

Underpricing – Theorien zur Erklärung eines weltweiten Phänomens – 1. Teil

Allgemein, Bewertung & Kapitalmärkte

1. Einleitung

M&A ist eine Form des Übertrags von Eigentum an Unternehmen oder Unternehmensteilen. Daneben gibt es weitere Strategien, um die mit einem solchen Übertrag verbundenen Ziele zu erreichen. Will ein Unternehmen beispielsweise seine Wertschöpfungstiefe erhöhen, steht es vor der Frage, einen Lieferanten zu akquirieren oder das hierfür nötige Know-how inhouse zu entwickeln. Im Falle einer geplanten Desinvestition existieren ebenfalls verschiedene Exit-Strategien jenseits des M&A, die für einen Verkäufer in Frage kommen.

M&A steht damit in einer Konkurrenzsituation zu weiteren Vorgehensweisen der Desinvestition von Unternehmensanteilen, wobei die Grenzen hier bisweilen fließend sind (Sell/Buy/Spin/Split-off/up/out/in …). Dieser Beitrag thematisiert mit dem Börsengang beziehungsweise Initial Public Offering (IPO) eines Unternehmens eine dieser Möglichkeiten. Genauer gesagt wird ein Phänomen untersucht, das quasi raum- und zeitunabhängig auf nahezu allen Kapitalmärkten im Zusammenhang mit IPOs festzustellen ist: Underpricing.

Der erste Teil in dieser Ausgabe wird sich mit dem Begriff und den theoretischen Grundlagen des Underpricing auseinandersetzen sowie die bestehenden Theorien kritisch reflektieren. Im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe werden die IPOs in Deutschland während der letzten 20 Jahre auf Underpricing untersucht. Die empirische Untersuchung geschieht vor dem Hintergrund der forschungsleitenden Frage, welche der Theorien zum Underpricing sich auf den deutschen Kapitalmarkt im angegebenen Zeitraum anwenden lassen.

 

2. Underpricing

Im zweiten Kapitel werden die begrifflichen und inhaltlichen Grundlagen zum Underpricing geschaffen. Bevor man sich Gedanken darüber machen kann, ob eine Aktie „underpriced“ ist, gilt es darzulegen, welche gängigen Bepreisungsverfahren bei IPOs es überhaupt gibt. Die einfachste Form ist die Festpreisvariante. Der Name ist selbstredend. Der Preis wird zwischen Emittenten und der Emissionsbank festgelegt, ohne potenzielle Investoren in die Preisfindung zu integrieren.

Die Anwendung des Auktions- oder Tenderverfahrens ist überwiegend auf Frankreich und Großbritannien beschränkt.[1. Vgl. Blättchen/Jacquillat: B.rseneinführung – Theorie und Praxis, 1999, S. 173 ff.; Jenkinson/Ljungqvist: Going Public - The Theory and Evidence on How Companies Raise Equity Finance, 2. Aufl., 2001, S. 20.] Es wird ein Mindestpreis festgelegt und um Gebote gebeten. Die Zuteilung erfolgt dann entweder nach dem Amerikanischen oder dem Holländischen Verfahren. Beim Amerikanischen zahlt jeder Investor – ausgehend vom höchsten Gebot – den von ihm genannten Preis. Beim Holländischen wird im Gegensatz dazu ein Einheitspreis festgelegt und auch diejenigen Gebote, die darüber liegen, zu diesem Kurs abgerechnet.[2. Vgl. Husson/Jacquillat: French New Issue – Underpricing and Alternative Methods of Distribution, in: Guimaraes/Kingsman/Taylor (Hrsg.): Reappraisal of the Efficiency of Financial Markets, 1989, S. 349-368; Gravenhorst: Platzierungsverfahren bei Aktienemissionen und der Anspruch auf Zuteilung, Dissertation, 2003, S. 47 ff.; Löhr: Börsengang, 2000, S. 128; Weiler: Erfolgreiche Vermarktung eines IPOs, in: Arlinghaus/Balz (Hrsg.): Going Public - Der erfolgreiche Börsengang, 2001, S. 156-180.]

Der Standard für die Preisbildung in den USA und mit Beginn des Neuen Marktes in Deutschland ist das Bookbuildingverfahren.[3. Vgl. Jagannathan/Sherman: Why Do IPO Auctions Fail?, National Bureau of Research, Working Paper (Cambridge), 2006, S. 45 ff.] Auch hier werden die potenziellen Investoren an der Preisfindung beteiligt. Nach einer Pre-Marketing-Phase werden vom Emittenten und den Emissionsbanken die Preisspanne, die maximale Verkaufsmenge und die Zeichnungsfrist fixiert. Die eigentliche Marketingphase wird als Bookbuildingphase (die Nachfrage wird im Orderbuch erfasst) bezeichnet.[4. Vgl. Weiler: Bookbuilding - Die neue Platzierungsform beim Gang an die Börse, in: Volk: Going Public - der Gang an die Börse, 2000, S. 267-278.] Danach sollten sich Emittent und Emissionsbanken auf den Emissionspreis einigen.

Unabhängig von dem jeweiligen Preisbildungsverfahren bedeutet die Beauftragung von Emissionsbanken in der Regel, dass die Emission im ersten Schritt von den Banken gekauft und anschließend über die Börse an die Investoren weiterverkauft wird. Ist der Emissionspreis (für den Emittenten von der Emissionsbank) kleiner als der Sekundärmarktkurs (an der Börse), spricht man von Underpricing.[5. Vgl. Heeley/Matusik/Jain: Innovation, Appropriability, and the Underpricing of Initial Public Offerings, in: The Academy of Management Journal, 2007 (50), Nr. 1, S. 209-225; Engelen/Essen: Underpricing of IPOs: Firm-, Issue- and Country-Specific Characteristics, in: Journal of Banking & Finance, 34 (2010), Nr. 8, S. 1958-1969.] Für diese Differenz der Preise gibt es in der Literatur unterschiedliche Interpretationen und Berechnungsmethoden, die es schwierig machen, einzelne Studien über das Underpricing miteinander zu vergleichen.[6. Vgl. Neus: Zur Theorie der Finanzierung kleinerer Unternehmen, 1995, S. 188.]

Zunächst wird das ex-ante-Underpricing vom ex-post-Underpricing unterschieden. Bei einem ex-ante-Underpricing steht der erwartete Sekundärmarktpreis im Vergleich zum realisierten im Vordergrund. Das ex-post-Underpricing meint die Differenz des realisierten Sekundärmarktkurses am ersten Handelstag zum Emissionskurs der Aktie.[7. Vgl. Neus: Börseneinführung, Underpricing und die Haftung von Emissionsbanken, in: Kredit und Kapital, 1996 (29), Nr. 3, S. 428-455.] Diese Differenz wird in der Literatur auch als Excess Return, Initial Return oder Raw Return bezeichnet.[8. Vgl. Saunders/Lim: Underpricing and the New Issue Process in Singapore, in: Journal of Banking & Finance, 1990 (14), Nr. 2-3, S.291-309; Kunz/Aggarwal: Why Initial Public Offerings are Underpriced: Evidence from Switzerland, in: Journal of Banking & Finance, 1994 (18), Nr. 4, S. 705-723; Lee/Taylor/Walter: Australian IPO Pricing in the Short and Long Run, in: Journal of Banking & Finance, 1996 (20), Nr. 7, S. 1189-1210.]

Weiter gilt es zu berücksichtigen, welcher Sekundärmarktkurs für die Berechnung herangezogen wird. In zahlreichen Studien wird der erste Sekundärmarktkurs verwendet. Häufig wird jedoch aus Gründen der Verfügbarkeit der Schlusskurs am ersten Handelstag für die Berechnung benutzt.[9. Carter/Manaster: Initial Public Offerings and Underwriter Reputation, in: The Journal of Finance, 1990 (45), Nr. 4, S. 1045-1067; Krigman/Shaw/Womack: Why Do Firms Switch Underwriters, in: Journal of Finance Economics, 2001 (60), Nr. 2-3, S. 245-284.]

Schließlich gilt es noch den Zeitraum zwischen dem ersten Börsenhandelstag und dem letzten Tag der Zeichnungsfrist einzukalkulieren. Die Wertentwicklung einer Vergleichsanlage (beispielsweise ein Aktienindex) für diesen Zeitraum muss vom Initial Return der Aktie abgezogen werden. Diese auch für diesen Beitrag zugrunde liegende Sichtweise des (ex-post-)Underpricing wird in der Literatur als Zeichnungs- oder Emissionsrendite bezeichnet.[10. Vgl. Hunger: IPO-Underpricing und die Besonderheiten des Neuen Marktes: Eine ökonomische Analyse börsenrechtlicher Marktsegmentierung, 2001, S. 26.]

Damit sind die erforderlichen begrifflichen Grundlagen in einer für diesen Beitrag reduziert fokussierten Weise geschaffen, um die verschiedenen Theorien zum Underpricing im nächsten Gliederungspunkt näher beleuchten und anschließend kritisch reflektieren zu können.

 

3. Erklärungstheorien zum Underpricing

In der Literatur finden sich verschiedene Systematisierungsansätze der Theorien zum Underpricing. Häufig zitiert wird die Arbeit von Kaserer/Kempf, in der zwischen gleichgewichtsgeleiteten und Ad-hoc-Theorien unterschieden wird.[11. Kaserer/Kempf: Das Underpricing-Phänomen am deutschen Kapitalmarkt und seine Ursachen, in: Zeitschrift für Bankenrecht und Bankwirtschaft, 1995 (1), S. 45-68.]

 

3.1. Gleichgewichtsgeleitete Erklärungsansätze

Die gleichgewichtsgeleiteten Erklärungsansätze lassen sich innerhalb der Finanzierungstheorie der Neuen Institutionenökonomik und dort der Prinzipal-Agent- Theorie zuordnen. Wesentliches Kennzeichen sind Asymmetrien in Hinblick auf Information, Risiko und Nutzen zwischen den an einer Transaktion beteiligten Wirtschaftssubjekten.[12. Vgl. Jensen/Meckling: Theory of the Firm. Managerial Behavior, Agency Costs, and Ownership Structure, in: Journal of Financial Economics, 1976 (3), Nr. 4, S. 305–360.] Für das Thema Underpricing lassen sich hierfür drei Gruppen identifizieren: Emittenten, Investoren und Emissionsbanken.[13. Vgl. Kaserer/Kempf: Das Underpricing-Phänomen am deutschen Kapitalmarkt und seine Ursachen, in: Zeitschrift für Bankenrecht und Bankwirtschaft, 1995 (1), S. 45-68.] Manche der Theorien gliedern hierbei die Gruppe der Investoren noch weiter auf.

Bei dem gleichgewichteten Erklärungsansatz von Rock als deren wahrscheinlich bekanntestem Vertreter ist eine Informationsasymmetrie zwischen gut informierten und weniger gut informierten Investoren verantwortlich für das Underpricing.[14. Vgl. Anderson/Beard/Born: Initial Public Offerings - Findings in Theories, 2001, S. 30; Rock: Why New Issues are Underpriced, in: Journal of Financial Economics, 1986 (15), Nr. 1-2, S. 187-212.] Erstere sind aufgrund ihrer Informationen in der Lage, die Emission entsprechend zu bewerten. Weil sie bei einer überbewerteten Emission nicht zeichnen, ergibt sich in diesem Fall ein Überangebot an Aktien mit der Folge fallender Sekundärmarktkurse. Am Ende steht für den weniger gut informierten Investor eine negative Zeichnungsrendite. Ist ein Börsengang dagegen unterbewertet, werden beide Gruppen versuchen zu zeichnen, wodurch die Emission überzeichnet wird und die uninformierten Anleger nur eine anteilige Zuteilung erhalten. Die uninformierten Investoren wären demnach immer im Nach teil (winner´s curse ).[15. Vgl. Döhrmann: Underpricing oder Fair Value - Das Kursverhalten deutscher Erstemissionen, Disseratation, 1990, S. 332 ff.; Beatty/Ritter: Investment Banking, Reputation, and the Underpricing of Inital Public Offerings, in: Journal of Finance Economics, 1986 (15), Nr. 1-2, S. 213-232.]

Das Underpricing hat in diesem Fall nicht nur die Rolle inne, die Neuemission erfolgreich zu gestalten, sondern auch die weniger gut informierten Investoren im Markt zu halten, da diese auf Dauer nur bei entsprechend positiver Emissionsrendite im Markt verbleiben.[16. Vgl. Wilkens/Graßhoff: Das Underpricing-Phänomen bei Aktienneuemissionen : Systematisierung von Erklärungsansätzen und Überblick über empirische Untersuchungen, 1999, S. 27.] Unter der Annahme, dass keine der beiden Investorengruppen über genügend Mittel verfügt, um die Emissionen alleine zu zeichnen, hätte dies eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des Neuemissionsmarktes zur Folge.[17. Vgl. Hunger: IPO-Underpricing und die Besonderheiten des Neuen Marktes: Eine ökonomische Analyse börsenrechtlicher Marktsegmentierung, 2001, S. 98.]

Am Ansatz von Rock ist nachvollziehbar, dass es Investorengruppen mit unterschiedlichem Informationsstand gibt. Kritisch ist aus empirischer Sicht anzuführen, dass keine frei zugänglichen Daten darüber existieren, wie hoch der Wissensstand der einzelnen Investoren ist oder mit welchem Anteil diese letztendlich an der Emission beteiligt sind.[18. Vgl. Uhlir: Der Gang an die Börse und das Underpricing-Phänomen, in: Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft, 1989 (1), Nr. 1, S. 2-16.]

Die ex-ante-Unsicherheit-Theorie als nächste Theorie innerhalb der gleichgewichteten Erklärungsansätze thematisiert Risikoasymmetrien zwischen Emittenten und Investoren. Je weniger über einen Emittenten öffentlich bekannt ist, desto größer ist die Unsicherheit bezüglich des künftigen Wertes der Aktie. Es besteht eine positive Korrelation zwischen dem Grad der Unsicherheit und der Höhe des Underpricing.[19. Vgl. Hunger: IPO-Underpricing im Kontext einer vertikalen Marktsegmentierung, Dissertation, 2005, S. 46.] Der Investor kann erwarten „that more money be left ,on the table’, in an expected value sense, via underpricing”, um für die Informationsbeschaffungskosten entschädigt zu werden.[20. Beatty/Ritter: Investment Banking, Reputation, and the Underpricing of Inital Public Offerings, in: Journal of Finance Economics, 1986 (15), Nr. 1-2, S. 213-232.] Empirische Bestätigungen für eine Beziehung zwischen der Qualität des Emittenten und der Höhe des Underpricings und damit für einen risikobasierten Zusammenhang finden sich national wie international vielfältig.[21. Beispielsweise: Ljungqvist: Pricing Initial Public Offerings: Further Evidence from Germany, in: European Economic Review, 1997 (41), Nr. 7, S. 1309-1320; Mok/Hui: Underpricing and Aftermarket Performance of IPOs in Shanghai, in: Pacific-Basin Finance Journal, 1998 (6), Nr. 5, S. 453-474; Paudyal/Saadouni/Brahim: Privatisation Initial Public Offerings in Malaysia: Initial Premium and Long-Term Performance, in: Pacific-Basin Finance Journal, 1998 (6), Nr. 5, S. 427-451.]

Innerhalb der gleichgewichteten Erklärungsansätze lassen sich weiter verschiedene Signalling-Thesen unterscheiden. Unter Signalling versteht man innerhalb der Prinzipal-Agent-Theorie Bemühungen eines Transaktionspartners, vorhandene Asymmetrien abzubauen, um den eigenen Nutzen zu erhöhen. Zu den Signalkosten in Verbindung mit einem IPO sind diejenigen Kosten zu zählen, die durch den geringeren Emissionserlös aufgrund des Underpricing entstehen.[22. Vgl. Ljungqvist/Wilhelm: IPO Pricing in the Dot-Com Bubble, in: The Journal of Finance, 2003 (58), Nr. 2, S. 723-752.] Innerhalb der Signalling-Thesen wird das Underpricing als bewusst eingesetztes Instrument gesehen, um die Qualität eines überdurchschnittlich guten IPO zu signalisieren:[23. Vgl. Allen/Faulhaber: Signalling by Underpricing in the IPO Market, in: Journal of Financial Economics, 1989 (23), Nr. 2, S. 303-323.]  „… high-quality firms demonstrate that they are high quality by throwing money away“.[24. Ritter/Welch: A Review of IPO Activity, Pricing and Allocations, in: The Journal of Finance, 2002 (57), Nr. 4, S. 1795-1828.] Durch die positiven Erfahrungen mit diesem IPO wären die Investoren bereit, bei Folgeemissionen einen höheren Preis zu bezahlen. Ein solcher Zusammenhang wird jedoch empirisch kritisch gesehen beziehungsweise konnte nicht nachgewiesen werden.[25. Vgl. Schmidt: Underpricing bei deutschen Erstemissionen 1984/85, in: Journal of Business Economics, (1988 (58), Nr. 11, S. 1193-1203; Ljungqvist: Pricing Initial Public Offerings: Further Evidence from Germany, in: European Economic Review, (1997 (41), Nr. 7, S. 1309-1320; Wasserfallen/Wittleder: Pricing Initial Public Offerings: Evidence of Germany, in: European Economic Review, 38 (1994), Nr. 7, S.1505-1517.]

Im Signalling-Modell von Grinblatt/Hwang wird zusätzlich zum Underpricing die Höhe des platzierten Kapitalanteils von Altaktionären betrachtet. Entscheidend ist ein möglichst hoher verbleibender Kapitalanteil der Altaktionäre als positives Signal für die Qualität einer Unternehmung.[26. Vgl. Grinblatt/Hwang: Signalling and the Pricing of New Issues, in: The Journal of Finance, 1989 (44), Nr. 2, S.393-420.]

Ähnlich argumentieren solche Theorien innerhalb der Signalling-Thesen, die ein geringeres Underpricing unterstellen, wenn Venture-Capital-Firmen beim Emittenten beteiligt sind.[27. Vgl. Allen/Faulhaber: Signalling by Underpricing in the IPO Market, in: Journal of Financial Economics, 1989 (23), Nr. 2, S. 303-323.] Dieser Zusammenhang wird verstärkt, wenn der Kapitalgeber nach Ablauf des IPO beim Emittenten verbleibt. Das Underpricing fällt umso niedriger aus, je höher der Kapitalanteil der Venture-Capital-Firma nach dem IPO ist.[28. Vgl. Megginson/Weiss: Venture Capitalist Certification in Initial Public Offerings, in: Journal of Finance, 1991 (41), Nr. 3, S. 879-903.]

Gegen die Venture-Capital-Theorie spricht die zumeist gegenteilige Verhaltensweise von Venture-Capital- Firmen, die mit einem IPO den Verkauf ihrer Beteiligung gerade bezwecken. Dementsprechend höher fällt das Underpricing aus, wenn eine Venture-Capital-Firma bereits beteiligt ist.[29. Vgl. Lin/Smith: Insider Reputation and Selling Decisions: the Unwinding of Venture Capital Investments During Equity IPOs, in: Journal of Corporate Finance, 1998 (4), Nr. 3, S. 241-263.] Nichtsdestotrotz überwiegt die Anzahl der Befürworter dieser Theorie.[30. Vgl. beispielsweise Megginson/Weiss: Venture Capitalist Certification in Initial Public Offerings, in: Journal of Finance, 1991 (46), Nr. 3, S. 879-903.]

Innerhalb der Signalling-Thesen hat als nächster Vertreter die Theorie der Reputation der Emissionsbanken eine dominierende Stellung. Der Emittent kann in diesem Modell durch die Wahl der Emissionsbank die Informationsasymmetrien zwischen gut informierten und weniger gut informierten Anlegern abbauen und damit das Underpricing reduzieren.[31. Vgl. Carter/Manaster: Initial Public Offerings and Underwriter Reputation, in: The Journal of Finance, 1990 (45), Nr. 4, S. 1045-1067.] Das Modell basiert auf der Annahme der Signalwirkung, die von Emissionsbanken mit einer entsprechend hohen Reputation ausgeht. Diese würden nur die IPOs auswählen, die ein geringes Risiko aufweisen[32. Vgl. Erhardt: B.rseneinführung von Aktien am deutschen Kapitalmarkt, Dissertation, 1997, S. 118 f.] und sich ihren Service durch hohe Gebühren bezahlen lassen. Nur diejenigen Emittenten, die über gute Projekte verfügen und daraus entsprechende Überschüsse erzielen, können solche Gebühren aufbringen.

Ohne hier auf die Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines Reputationsmaßes einzugehen, kann festgehalten werden, dass Studien bezüglich der Reputationstheorie zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.[33. Kaserer/Kempf: (Das Underpricing-Phänomen am deutschen Kapitalmarkt und seine Ursachen, in: Zeitschrift für Bankenrecht und Bankwirtschaft, 1995 (1), S. 45-68) beispielsweise sehen die Reputationstheorie bezogen auf den deutschen Kapitalmarkt kritisch. Schmidt hingegen bestätigt die Theorie (Underpricing bei deutschen Erstemissionen 1984/85, in: Journal of business economics, 1988 (58), Nr. 11, S. 1193-1203).]

Mit der Theorie des Informationsvorsprungs wird eine Informationsasymmetrie zugunsten der Emissionsbank gegenüber dem Emittenten unterstellt. Um diese Information zu nutzen, überträgt der Emittent die Verantwortung der Emissionspreisfindung an die Emissionsbank. Diese dagegen strebt einen niedrigen Emissionspreis und damit ein hohes Underpricing an, um das Platzierungsrisiko zu reduzieren und notwendige Marketingkosten gering zu halten.[34. Vgl. Loughran/Ritter: Why Don’t Issuers Get Upset About Leaving Money on the Table in IPOs?, in: The Review of Financial Studies, 2002 (15), Nr. 2, S.413-443.] Der Emittent kann dies nicht abschätzen und geht von einem erfolgreichen IPO aus, wenn dieser schnell ausplatziert ist.[35. Vgl. Reilly/Hatfield: Investor Experience with New Stock Issues, in: Financial Analysts Journal, 1969 (25), Nr. 5, S. 73-80; Mc Donald/Fisher: New Issue Stock Price Behavior, in: The Journal of Finance, 1972 (27), Nr. 1, S. 97–102.] Die Modellannahmen wurden durch die Annahme erweitert, dass sich Emissionsbanken mit institutionellen Investoren zum Nachteil für den Emittenten verbünden.[36. Vgl. Biais/Bossaerts/Rochet: An Optimal IPO Mechanism, in: Review of Economic Studies, 2002 (69), Nr. 1, S. 117-146.] Institutionelle Investoren überlassen den Emissionsbanken Informationen und werden hierfür durch hohe Kursgewinne entlohnt.

 

3.2. Ad-hoc-Erklärungshypothesen

Während die gleichgewichtsgeleiteten Erklärungsansätze mit der Prinzipal-Agent-Theorie eine gemeinsame disziplinäre Heimat aufweisen, basieren die Adhoc-Erklärungshypothesen auf unterschiedlichen Grundlagen. Es wird im Folgenden eine Unterteilung in institutionelle, behavioristische und sonstige Erklärungsanätze vorgenommen. Zunächst werden zwei Vertreter vorgestellt, die sich auf institutionelle Rahmenbedingungen beziehen:

Die Prospekthaftungshypothese beschreibt das Underpricing als eine Versicherungsfunktion, um das Prospekthaftungsrisiko zu reduzieren. Durch das bewusste Underpricing wollen Emittenten und Emissionsbanken die Wahrscheinlichkeit einer Klage und die Höhe möglicher Schadensersatzansprüche reduzieren.[37. Vgl. Lubig: Underpricing und langfristige Performance der IPOs am Neuen Markt, Dissertation, 2004, S. 234.] Dieser Ansatz geht auf Tinic zurück, die anführt, dass sich seit der Einführung des Securities Act 1933, der unter anderem die Offenlegungspflichten bei Neuemissionen regelt, das Underpricing mehr als verdoppelt hat.[38. Vgl. Tinic: Anatomy of Intial Public Offerings of Common Stocks, in: The Journal of Finance, 1988 (43), Nr. 4, S. 789-822.] Dagegen argumentieren zum Beispiel Ritter/Welch, dass diese Art einer Klagevermeidung sehr kostspielig wäre. Zudem ist in Ländern wie Finnland trotz keiner juristischen Handhabe das Underpricing ebenso hoch.[39. Vgl. Ritter/Welch: Investment Banking and Securities Issuance, in: Constantinides/Harris/Stulz (Hrsg.): Handbook of the Economics of Finance, 2003, S. 253-304.]

Die Hypothese der Kurspflegemaßnahmen besagt, dass Emissionsbanken kein bewusstes Underpricing vor dem IPO produzieren. Vielmehr kommt das Underpricing durch Maßnahmen der Emissionsbanken zur Preisstabilisierung nach dem IPO zustande. Notiert der Sekundärmarktkurs unter dem Emissionspreis, greifen die Emissionsbanken aus Reputationsgründen preisstabilisierend in den Sekundärmarkt ein und erhöhen die Nachfrage.[40. Vgl. Ruud: Underwriter Price Support of the IPO Underpricing Puzzle, in: Journal of Financial Economics, 1993 (34), Nr. 2, S.135-151.]

Die nächsten beiden Erklärungsansätze lassen sich wie erwähnt dem Behavioral Finance zuordnen. Das aus dem Herdenverhalten entwickelte Kaskadenmodell unterstellt, dass Investoren das gesamte Nachfrageverhalten beobachten und ihre Kaufentscheidung danach ausrichten. Auch wenn einem Investor nur positive eigene Informationen zur Emission vorliegen, wird er sich gegen eine Emission entscheiden, weil sich andere Investoren dagegen entschieden haben. Durch ein bewusstes Underpricing wird im Sinne dieser Theorie versucht, eine Kaskade positiver Kaufentscheidungen zu initiieren.[41. Vgl. Welch: Sequential Sales, Learning and Cascades, in: The Journal of Finance, 1992 (47), Nr. 2, S. 695-732.]  Die aktuell einzige Studie zur Theorie des Herdenverhaltens konstatiert zumindest, dass eine hohe Nachfrage nach einem IPO von den Marktteilnehmern wahrgenommen wird.[42. Vgl. Chowdhry/Sherman: International Differences in Oversubscription and Underpricing of IPOs, in: Journal of Corporate Finance, 1996 (2), Nr. 4, S. 359-381.] Chowdry/Sherman zeigen darin auf, dass bei hoher Nachfrage nach einem IPO Investoren tendenziell mehr Aktien zeichnen als ursprünglich geplant.

Die ebenfalls behavioristisch basierte Theorie der Stimmungsinvestoren unterstellt ein bisweilen übersteigertes Interesse von beschränkt rationalen Investoren am Sekundärmarkt. Dies führt zu einem Nachfrageüberhang und damit zu einer Emissionsrendite während der ersten Handelstage, die nicht mehr einer Risikoprämie entspricht.[43. Vgl. Oehler/Rummer/Micklitz: Is the Investor Sentiment Approach the Solution to the IPO Underpricing Phenomenon?, in: Journal of Financial Transformation, 2005 (13), S. 127-130.] Geht man davon aus, dass Stimmungsinvestoren das Verhalten anderer Marktteilnehmer imitieren, so kann diese Theorie als komplementär zum Kaskadenmodell eingeordnet werden. Eine isolierte empirische Untersuchung hierzu gibt es bislang noch nicht.

Nun gilt es noch die sonstigen Theorien vorzustellen, die jeweils für sich einen interessanten beziehungsweise relevanten Aspekt im Rahmen des Underpricing thematisieren. Die erste hier zu nennende Theorie sieht in der Monopolstellung der Emissionsbanken und dem daraus resultierenden mangelnden Wettbewerb untereinander einen wesentlichen Grund für das Underpricing.[44. Vgl. Logue: An Empirical Appraisal of the Efficiency of the Market for First Public Offerings of Common Stock, Dissertation, 1971, S. 91 ff.; Hunger: IPO-Underpricing und die Besonderheiten des Neuen Marktes: Eine ökonomische Analyse börsenrechtlicher Marktsegmentierung, 2001, S. 111.] Die Emissionsbanken versuchen, mit einem niedrigen Emissionspreis ihr Absatzrisiko zu senken, und den Emittenten fehlt die Möglichkeit, auf einen Wettbewerber zurückzugreifen, der einen höheren Emissionspreis verspricht. Empirisch konnte in diesem Zusammenhang eine negative Korrelation zwischen der Wettbewerbssituation der Emissionsbanken und dem Underpricing festgestellt werden.[45. Vgl. Ehrhardt: B.rseneinführung von Aktien am deutschen Kapitalmarkt, Dissertation, 1997, S. 116.]

Die Speculative-Bubble-Annahme unterstellt, dass weniger die Fundamentaldaten in die Bewertung einer Neuemission einbezogen werden, sondern lediglich das Kurssteigerungspotenzial.[46. Vgl. Schweinitz: Renditeentwicklungen von Aktienemissionen: Overpricing beim Going Public in Deutschland, 1997, S. 70 f.] Wenn daraus ein Nachfrageüberhang resultiert, entsteht ein Underpricing.[47. Vgl. Kunz: Going Public in der Schweiz: Preisbildung und Erfolgsfaktoren, 1991, S. 209.] Abhängig von der Rendite vorangegangener Börsengänge lässt sich das Ausmaß der Speculative Bubble bestimmen. So kommt es in einem Umfeld hoher Zeichnungsrenditen tendenziell auch zu einer erhöhten Nachfrage bei nachfolgenden Börsengängen. Gleichzeitig nehmen die Anstrengungen der Investoren ab, Informationen zu den Emissionen zu beschaffen, da sie die vorherigen hohen Zeichnungsrenditen auch in Zukunft annehmen.[48. Vgl. Weinberger: Going publics in Deutschland: Underpricing, Fair Valuing oder Overpricing?, 1995, S. 117; Ploog/Stolpe: Die Fehlbewertung junger Aktiengesellschaften beim Gang an die Börse - Ursachen und wirtschaftspolitische Konsequenzen, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 2003 (52), Nr. 1, S. 128-151.]

Entsprechend dem Ansatz der verschiedenen Marktphasen können verschiedene Phasen durch einen Vergleich der durchschnittlichen Emissionsrenditen mit dem historischen Mittelwert identifiziert werden. Ein Hot Issue Market mit überdurchschnittlichen Emissionsrenditen und einer ansteigenden Emissionstätigkeit schlägt sich im Gegensatz zu einem Cold Issue Market in einem entsprechenden Underpricing nieder. Solche Marktphasen wurden für den amerikanischen Kapitalmarkt für den Zeitraum von 1960 bis 1982 identifiziert.[49. Vgl. Ritter: The “Hot Issue” Market of 1980, in: The Journal of Business, 1984 (57), Nr. 2, S. 215-240; Ibbotson/Jaffe: Hot Issue Markets, in: The Journal of Finance, 1975 (30), Nr. 4, S. 1027-1042.]

In Anlehnung an die Prospect Theory ist ein niedriges, sichereres Ergebnis einem hohen, unsicheren Ergebnis vorzuziehen.[50. Vgl. Kahnemann/Tversky: Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, 1979 (47), Nr. 2, S. 263-292.] Übertragen auf IPOs akzeptieren Emittenten ein hohes Underpricing, da der Emissionserlös damit als sicher angesehen wird.[51. Vgl. Loughran/Ritter: Why Don’t Issuers Get Upset About Leaving Money on the Table in IPOs?, in: The Review of Financial Studies, 2002 (15), Nr. 2, S.413-443.] Dieser Verlust relativiert sich zudem aus Sicht der Altaktionäre, die weiter in Besitz von Aktien sind, da er durch Kurssteigerungen im Sekundärmarkt überkompensiert wird. Eine Bestätigung für die Prospect Theory gibt es bislang nur für den italienischen Kapitalmarkt.[52. Vgl. Arosio/Giudici/Paleari: Why Do (or Did?) Internet-Stock IPOs Leave So Much “Money on The Table”?, Working Paper, Universita di Bergamo, 2000, S. 20.]

 

Theorien zum Underpricing im Überblick

 

Institutional Allocation ist eine Theorie, nach der Emissionsbanken eine Neuemission bevorzugt an institutionelle Investoren zuteilen. Hierbei erfolgt ein bewusstes Underpricing nicht wie im Rahmen der Prinzipal- Agent-Theorie, um Risiko- oder Informationsasymmetrien abzubauen. Vielmehr handelt es sich um einen marketing- beziehungsweise vertriebstechnischen Ansatz, um diese wichtige Kundengruppe zufriedenzustellen. Außerdem verdienen Investmentbanken an einem regen Sekundärmarkthandel im Zuge des Underpricing mehr als an Aktien, die zum erwarteten Gleichgewichtspreis emittiert werden.[53. Vgl. Hanley/Wilhelm: Evidence on the Strategic Allocation of Initial Public Offerings, in: Journal of Financial Economics, 1995 (37), Nr. 2, S. 239-257; Aggarwal/Nagpurnanand/Manju: Institutional Allocation in Initial Public Offerings: Empirical Evidence, in: The Journal of Finance, 2002 (57), S. 1421-1442.]

Gemäß der Marktreputationshypothese könnte ein Emittent seinen Emissionserlös durch die Wahl des Segments mit der höchsten Reputation maximieren. Erfüllt der Emittent die mit dem jeweiligen Segment verbundenen Erwartung aber nicht, führt dies zu Kursverlusten. Es erscheint daher rationaler, ein Segment mit einer niedrigen Reputation zu wählen und die Aktien mit einem entsprechenden Abschlag an den Markt zu bringen. Aus Investorensicht lässt sich das Underpricing als Risikoprämie interpretieren, die mit der Marktliquidität und den eventuell höheren Informationsbeschaffungskosten des jeweiligen Segments zusammenhängt.[54. Vgl. Hunger: IPO-Underpricing im Kontext einer vertikalen Marktsegmentierung, Dissertation, 2005, S. 163 ff.]

In empirischen Studien wurde die Marktsegmentierung eher außer Acht gelassen. Wasserfallen/Wittleder urteilen sogar, dass die vertikale Marktsegmentierung das Underpricing nicht beeinflusst.[55. Vgl. Wasserfallen/Wittleder: Pricing Initial Public Offerings: Evidence of Germany, in: European Economic Review, 38 (1994), Nr. 7, S.1505-1517.] Erhardt und Schmidt untersuchen zwar Teilmärkte, hinterfragen aber nicht die Bedeutung der Marktsegmentierung.[56. Vgl. Erhardt: B.rseneinführung von Aktien am deutschen Kapitalmarkt, Dissertation, 1997, S. 77 f.; Schmidt: Underpricing bei deutschen Erstemissionen 1984/85, in: Journal of business economics, 1988 (58), Nr. 11, S. 1193-1203.]

 

4. Zusammenfassung

In diesem Kapitel werden die in Kapitel 3 dargestellten Theorien in einer Tabelle gemäß der vorgenommenen Strukturierung zusammengefasst.

Jeder der genannten Theorien beleuchtet für sich einen bestimmten Aspekt des Underpricing. Eine Verbindung untereinander, eine Hierarchie oder gar ein gemeinsamer Bezugsrahmen für die unterschiedlichen Theorien wurde hingegen noch nicht umfassend erforscht. Abschließend lässt sich daher festhalten, dass eine universelle Theorie, die die Entstehung von Underpricing allgemeingültig begründet, bislang nicht vorliegt.

Im zweiten Teil in der nächsten Ausgabe wird empirisch untersucht, welche der hier dargestellten Theorien zum Underpricing auf den deutschen Kapitalmarkt während der letzten 20 Jahre zutreffen.

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